Endlos

 

Fröstelnd stehe ich hier. Dicke Schneeflocken fallen vom Himmel, die sich in mein Haar setzen, kurz verweilen und als nasse Spur in meinem Kragen verschwinden. Ich ziehe den Reißverschluss der Jacke hoch, die Kälte kriecht durch den dicken Pullover, meine Hände sind rotgefroren. Ein nasskalter Tag im März. Der Wetterbericht hatte Sonne versprochen, aber der Frühling scheint lustlos zu sein. Dicke Wolkenberge verschleiern den Blick zum Horizont, der nebulös Zypressen und Bäume erahnen lässt.

Ich musste kommen, hatte es viel zu lange aufgeschoben. Wann kommst du, denke ich und schaue den Weg entlang. Ich habe dir viel zu sagen, überlege ich weiter und meine Gedanken wandern in die Vergangenheit.

Neben dir habe ich mich klein gefühlt. Was ich machte, war fast immer falsch. Deine Überlegenheit grenzte an egoistische Eigenliebe. Eigentlich hast du mich nie wirklich wahrgenommen. Manchmal kam ich mir wie ein Porzellanpüppchen vor, das man aus der Vitrine nimmt, anschaut und wieder wegstellt. Ich habe dich geliebt. An deinen Lippen gehangen und jedes Wort war eine goldene Treppe, die mich in den Himmel führte. Wenn ich dir einen Wunsch erfüllen konnte, tanzten meine Gedanken vor Freude. Ich hätte die Welt umarmen mögen. Lange war mir meine Abhängigkeit nicht bewusst. Ich hielt es für normal, für dich da zu sein und mich selbst hinten anzustellen. War deine Laune schlecht, gab ich mir die Schuld. Versuchte dich aufzuheitern, denn deine Stimmung spiegelte sich in meiner wider.

Du warst emanzipiert, das färbte auf mich ab. Männer hatten keinen höheren Stellenwert als Frauen. Trotzdem wusste ich, dass Mädchen in deinem Herzen weniger Platz haben. Wie gern wäre ich ein Junge gewesen, damit du mich anschaust und registrierst. Zeit haben wir wenig gemeinsam verbracht. Du hast Freunde besucht, warst unterwegs. Dein Terminkalender prall gefüllt. Neben Berufstätigkeit und Familienleben stand dein Bekanntenkreis weit vorn. Ein unternehmungslustiger Mensch, der sich unterhält und gern lachte. Ich habe dir zugeschaut. Ein Statist ohne Worte, der durch Zufall deinen Weg kreuzte. In deiner Jugend hast du getanzt und den Mann deines Herzens getroffen. Eine stürmische Liebe, ein wunderschönes Paar, das glücklich in die Kamera lächelte. Jugend ist vergänglich, sie ist ein launischer Gast, der sich nicht lange aufhält. Man kann sie auf Zelluloid bannen und sich daran erfreuen, während die Zeichen der Zeit, Falten ins Leben ziehen.

Standen wir uns nahe? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Eigentlich müsste ich ohne zu zögern ja sagen. Eine gewachsene Sperre hindert mich, ich war mehr geduldet als erwünscht. Einsamkeit begleitete mich und die Vernachlässigung spüre ich noch heute. Ich empfinde nicht wie andere Menschen, Gefühle lasse ich ungern zu, sie stören mich, obwohl ich in den letzten Jahren viel gelernt habe. Mein Hund ist wichtig, er gibt mir uneingeschränkte Liebe und fordert nichts.

Meine Füße sind durchnässt und die Gegenwart holt mich ein. Aus dem Schneefall ist ein Dauerregen geworden. Ich massiere meine tauben Finger und schaue mich um.

Du warst nie fort, denke ich. Du bist hier und hast mir zugehört. Antworten wird es keine geben. Die gab es damals, die gibt es heute nicht.

Ich muss damit klarkommen, dass Fragen mich den Rest meines Lebens begleiten. Sie werden gegenstandsloser, verschwinden im Nebel wie die Bäume am Horizont. Trotz des schlechten Wetters und der trüben Gedanken muss ich lächeln. Bin befreit. Zum ersten Mal schaue ich auf die kleine Messingplatte zu meinen Füßen. Ich bin vorher niemals hier gewesen. Dein Name, dein Geburts- und Sterbedatum sind eingraviert. Sie sind mir vertrauter als die Zeit dazwischen. Ich musste herkommen und mich von dieser Last befreien. Mir bewusst werden, dass ich nicht schuldig bin. Jeder ist für einen Teil seines Lebens selbst verantwortlich.

Heute beginnt der Rest meines Lebens.

© Geli Ammann 2018

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