Angela blinzelte. Das Morgenlicht schien durch die Rollladen, die Heiko einen Spalt offen gelassen hatte. Der Blick zur Uhr, es war 8.30 Uhr. Sie lächelte, schaute zu ihrem Mann, der tief schlief. Sein ehemals dunkelbraunes Haar war grau geworden und verlieh ihm eine Anziehungskraft, die reifere  Männer oft ausstrahlten.

Seit einigen Monaten waren sie im Ruhestand. Beide Anfang 60 und sie genossen es. Der Urlaub auf Mallorca, die Wanderungen. Nicht mehr ständig hetzen, auf die Uhr schauen. Den Tag anders einteilen. Keine Langeweile und kein Vermissen der Berufstätigkeit.

Nele und Wibke, ihre Töchter waren verheiratet und wohnten nicht weit entfernt. Wibke, die ältere, hatte vor einigen Wochen ein Baby bekommen und Angela liebte die kleine Ida.

Herrlich, nicht mehr jeden Morgen um sechs Uhr aufstehen zu müssen, dachte sie und ging ins Bad. Als sie die Kaffeemaschine anstellte, klapperte der Briefkasten. Angela ging zur Tür und holte die Post herein. Heikos Männerzeitung, wie er sie nannte. Es war ein Automagazin. Er liebte es, an seinem Oldtimer herumzuschrauben. Werbung, eine Rechnung und ein Brief vom Mammographie Screening. Man konnte es gleich erkennen, denn der Name war links oben rot aufgedruckt.

Angela nahm Vorsorgeuntersuchungen ernst. Ließ sich alle zwei Jahre durchchecken. Einmal im Jahr ging sie zum Frauenarzt. Das Screening alle zwei Jahre war Routine.

Sie hörte Heiko im Bad rumoren und deckte schnell den Tisch. Heute musste er kochen, sie machte das Frühstück. Sie wechselten sich damit ab. Einkaufen gingen sie zusammen. Hausarbeit wurde ansonsten geteilt.

Heiko blätterte in der Zeitung und Angela öffnete den Brief. Es war das gleiche Schreiben wie vor zwei Jahren. Der Termin war in zwei Wochen. Sie trug es in ihren Kalender auf dem Smartphone ein und vergaß es wieder.

Nachmittags kam Wibke vorbei. Ida, der kleine Sonnenschein lächelte so herzig. Heiko trug seine Enkeltochter gern herum, zeigte ihr die Blumen und Bäume im Garten. Er erzählte ihr Geschichten oder sang Kinderlieder. Im Wohnzimmer standen überall eingerahmte Fotos von der Kleinen.

Sie verplauderten den Rest des Tages. Am Wochenende wollten sie grillen. Alle hatten Zeit und der Wetterbericht hörte sich gut an. Auch Nele würde kommen.

Angela saß im Wohnzimmer und schaute ihre Lieblingsserie im Fernsehen. Während ihrer Berufstätigkeit hatte sie sich solchen Luxus nicht erlaubt. Ihr Smartphone piepte leise.

Es geht nicht mehr ohne WhatsApp, dachte sie. Ein Blick aufs Display, er war ihr Kalender, der Angela an ihre Termine erinnerte. Morgen früh war ihr Screening-Termin. Heiko würde sie hinfahren. Aus Erfahrung wusste sie, dass es schnell ging. Parkplätze gab es in unmittelbarer Nähe nicht. Danach konnten sie bummeln gehen. Heiko brauchte dringend neue Wanderschuhe.

Es lief immer genauso ab. Anmeldung, eine kurze Wartezeit, die Umkleidekabine und die etwas schmerzhafte Prozedur. Geredet wurde kaum. Es kamen nur Anweisungen und Angela wurde mit dem Satz entlassen.

„Sie bekommen innerhalb einer Woche Bescheid.“

Sie verbrachten einen schönen Tag in der Stadt, aßen mittags einen Kleinigkeit beim Italiener und planten eine Wanderung.

„Diese Zeit ist wunderbar“, dachte sie, hatte es aber laut gesagt und Heiko nickte lächelnd.

Er sah erholt aus. Mehr Schlaf, weniger Stress. Das Leben lag vor ihnen, es blieben viele schöne Jahre, die sie gemeinsam verbringen wollten.

„Wir müssen gesund bleiben“, sagte Heiko und drückte Angela einen Kuss auf die Hand. Ihr fiel die Mammografie ein. Schnell beruhigte sie sich. Es war eine Vorsichtsmaßnahme und das letzte Mal war alles in Ordnung gewesen. Oft reagierte sie hypochondrisch, zumal Zeitschriften oder Berichte im Fernsehen, ihre Befürchtungen noch verstärkten.

Als der Brief kam, war Angela allein zu Hause. Sie legte ihn auf den Küchentisch, überlegte einen Moment und riss den Umschlag auf.

Diesmal war das Schreiben anders verfasst. Sie wurden gebeten, an einem bestimmten Termin noch einmal vorbeizukommen. Unregelmäßigkeiten auf dem Röntgenbild müssten abgeklärt werden. Es bestünde kein Grund zur Beunruhigung. Als wenn sie es geahnt hätte, ihr Hände zitterten als sie den Brief Heiko zeigte. Er nahm sie in die Arme. Der neue Termin war nur wenige Tage später. Sie wollte nicht googeln, tat es doch. In ihr brodelte ein Gefühlschaos. Natürlich war es Routine und vielleicht musste das Röntgen wiederholt werden, weil das erste Bild nicht erkennbar war. Es gab viele Möglichkeiten. Eine kleine böse Stimme in ihr sagte jedoch, mach dir keine Hoffnungen, du hast Brustkrebs. Dieses Wort mit der schrecklichen Bedeutung. Zehn Buchstaben, die über Leben oder Tod entscheiden konnten.

Heiko begleitete sie. Es war im selben Gebäude wie die Vorsorgeuntersuchung vor ein paar Wochen. Eine freundliche Dame führte sie in ein Büro. Der Arzt war nett, erklärte ihr das weitere Vorgehen. Erzählte von Statistiken und Zahlen. Sie sollte sich keine Sorgen machen. Meist wäre der Befund nach einer zweiten Untersuchung unauffällig. Nach einem Ultraschall und einer Sonografie Untersuchung bekam sie einen Termin zur Stanzbiopsie. Auch die zweite Untersuchung hatte kein eindeutiges Ergebnis gezeigt.

Der Arzt nahm sich Zeit und erklärte ihr alles. Örtliche Betäubung, der Eingriff war keine große Sache. Sie musste eine Einverständniserklärung unterschreiben und stand kurze Zeit später mit Heiko vor dem Haus.  

Angela war wie in Trance. Heiko redete auf sie ein, aber jedes Wort prallte an ihr ab. Abends im Bett dachte sie an Freundinnen, die sie an diese Krankheit verloren hatte. An Chemotherapie und den Tod. Ihren Töchtern erzählte sie von dem Eingriff nichts. Vielleicht war alles harmlos und die Sorge unbegründet.

Warum ich, dachte sie und erschrak. Wünschte sie anderen Frauen diese Diagnose, die noch keine war. In ihrer Familie hatte es Brustkrebs bisher nicht gegeben. Ihre Mutter, ihre Großmutter waren alt geworden.

War es eine Strafe für Dinge, die sie getan hatte? Obwohl sie nicht wirklich an Gott glaubte, betete sie und bat um Vergebung. Die Tage zogen sich wie Kaugummi. Sie verhielt sich introvertiert, hörte in sich hinein, erhielt aber keine Antworten.

Der Eingriff selbst verlief völlig problemlos. Ein neuer Termin und Heiko fuhr sie nach Hause. Zunächst war Angela sehr erleichtert, fast euphorisch. Die Warterei war vorbei, doch schon am nächsten Tag grübelte sie erneut.

Falls das Ergebnis positiv wäre, gäbe es gute Behandlungsmethoden, hatte ihr der Arzt erklärt. Die psychische Belastung bedrückte Angela. Sie wusste, dass sie übertrieb, aber traute sich keinen guten Gedanken nicht zu. Natürlich ist Krebs kein Todesurteil und egal, wie sie es sich ausmalte, es würde anders kommen.

Am Abend vor dem Besprechungstermin surfte sie erneut im Internet. Suchte nach Ergebnissen, um sich besser zu fühlen. Durch Zufall stieß sie auf einen Artikel eines Jungen, der von seiner Krebserkrankung schrieb. So etwas hatte sie noch nie gelesen. Hoffnungsfroh schrieb er über sein Leben, über die Behandlungen und auch die Tiefschläge, die immer wieder folgten. Er schrieb von seinen Eltern und Geschwistern, die ihm leidtaten.  Ein mutiges, tapferes Kind, das schließlich starb.

Ich bade in Selbstmitleid, dachte Angela. Kenne das Ergebnis nicht und male es mir in den schwärzesten Farben aus. Ich bin nicht allein, habe eine starke Familie und werde, egal was kommt, kämpfen. Eine Diagnose ist nicht das Ende der Welt. Sie schämte sich für ihre negativen Gedanken der letzten Tage.

Am nächsten Morgen fuhr sie mit Heiko in die Arztpraxis, um ihr Ergebnis zu erfahren.

© Geli Ammann 2017

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