Gabriel

Elisabeth wartete. Seit sie im Seniorenpark wohnte, gab es wenig zu tun. Alles wurde ihr abgenommen. Um sieben Uhr wurde sie geweckt, kurz darauf gewaschen und in ihren Rollstuhl gesetzt. Punkt acht Uhr gab es Frühstück. Später ging es in den Aufenthaltsraum. Entweder lief der Fernseher oder jemand las vor. Das Essen war gut, aber ihr Interesse hatte nachgelassen. Es bedeutete ihr nichts, ob es Kohlrouladen, die sie früher über alles geliebt hatte, oder Pellkartoffeln mit Quark gab. 

Wenn das Wetter gut war, wurde ihr Rollstuhl in den Garten geschoben. Es gab den Austausch mit den Anderen, aber es war nicht ihr Zuhause. Abends spielte sie oft Skat. Eine Leidenschaft, die sich gut umsetzen ließ. Manchmal gab es ein Unterhaltungsprogramm. Es war in Ordnung. 

Sie seufzte! Früher hieß es Altenheim und der neue Name ändert nichts daran, dachte sie. Es hört sich schöner an, aber es ist wie ein schlechter Anstrich am Haus, wenn er abbröckelt kommt die alte schäbige Fassade durch

Sie hatte es sich selber ausgesucht. Im letzten Jahr hatte sie einen Oberschenkelhalsbruch, der schlecht verheilte und die Prognose, dass sie mit ihren 86 Jahren nie wieder ihre alte Kondition erreichen würde. Ihre hübsche Altbauwohnung lag im dritten Stock und es gab keinen Aufzug. Ihrer  Tochter wollte sie nicht zur Last fallen und das Seniorenheim lag in der Nähe ihrer alten Wohnung. 

Anne, kam jeden Tag vorbei. Manchmal nur für eine halbe Stunde. Oft kurz nach dem Mittagessen, bevor sie ihren Sohn aus dem Kindergarten abholte. Sie hatte viel zu tun, der Job, der Haushalt und der Junge, um den sie sich liebevoll kümmerte. Gabriel war ein Nachzügler, kein Kind der Liebe, aber ein geliebtes Kind. Die großen Geschwister waren aus dem Haus, lebten ihr eigenes Leben und Anne hatte nicht damit gerechnet, noch einmal schwanger zu werden. Ihre Ehe war dem Alltag zum Opfer gefallen und nach Gabriels Geburt, hatte sie sich von Max, der kein Interesse an seinem Sohn zeigte, endgültig getrennt. Wenn Anne nachmittags zu Besuch kam, brachte sie Gabriel oft mit. 

Lange hatte sich Elisabeth ein Kind gewünscht, aber die Ärzte sagten, dass sie niemals schwanger werden könnte. Künstliche Befruchtung gab es damals nicht. Sie hatte sich zusammen mit ihrem Mann Johannes um eine Adoption bemüht und Anne bekommen. 

Ein kleines Mädchen, dem sie ihre Liebe gaben. Die leiblichen Eltern waren zu jung und unerfahren. Froh, die Verantwortung nicht tragen zu müssen. 

Inzwischen haben sich die Zeiten geändert, damals eine Schande, ohne amtliches Dokument ein Kind zu bekommen, dachte Elisabeth. Für uns war es das größte Glück.

Sie lächelte und ihn Gedanken drehte sie die Zeit zurück, spazierte durch die Vergangenheit.

Sie schreckte hoch und schaute auf die Uhr. Anne würde bald kommen und vielleicht brachte sie Gabriel mit. Draußen verdunkelten dicke Wolken den Himmel. Der Wetterbericht hatte Regen angekündigt. Es war kühl geworden. 

Maikühl, dachte Elisabeth fröstelnd und summte den kleinen Reim:

„Maienregen fall auf mich, im nächsten Jahr, da wachse ich.“

 

Ich werde es Gabriel vorsingen, lachte sie.

 

Die Tür öffnete sich und Reni brachte den Kaffee. Sie schloss das Fenster und öffnete die Gardinen, damit Licht ins Zimmer fiel. Sie legte Elisabeth ein Tuch um und eilte ins nächste Zimmer.

Niemand hat Zeit.

Elisabeth atmete tief durch als es leise klopfte. Anne schlüpfte ins Zimmer und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. 

„Hast du Gabriel nicht mitgebracht?“ Elisabeth schaute bedauernd zur Tür. Anne schob den Rollstuhl zum Fenster und zeigte in den weitläufigen Park. 

„Er wollte unbedingt in den Garten und später heraufkommen. Du weißt doch, dass er sich gut zurechtfindet. Wir können ihn von hier oben sehen. 

Gabriel trug einen langen Regenmantel. Auf dem Kopf sein Strohhütchen und in den Händen hielt er einen bunten Regenschirm. Dicke Regentropfen hüpften lustig über den Schirm und fielen zu Boden. 

„Er wollte die alte Jacke anziehen“, lachte Anne. Sie wäre innen kuschelig weich und duftet nach Opa.“

„Papas alte Gartenjacke“, flüsterte Elisabeth. „Ich wusste nicht, dass du sie aufgehoben hast?“ 

„Eigentlich lag sie bei den Sachen für die Caritas, aber scheinbar hat Gabriel sie wieder einsortiert.“

Gabriel klappte den Regenschirm zusammen und hielt sein Gesicht in den Regen. Die Handseiten aufgeklappt, stand er ein Weilchen still, um einen Moment später zu tanzen. Selbst von hier oben konnten sie sehen, dass er lachte. Er streichelte das Gras und atmete den Duft des Regens. Ein Bild, das viel Fröhlichkeit ausstrahlte. 

„Ein besonderes Kind“, sagte Elisabeth und drückte Annes Hand.  

Gabriels Start ins Leben war schwierig. Eine Frühgeburt, mit den damit verbundenen Komplikationen. Auf den ersten Blick war davon nichts zu erkennen. 

„Er hat fast alles aufgeholt“, sagte Anne stolz und Elisabeth nickte. Lange hatten sie gemeinsam um sein Leben gebangt und viele Tränen vergossen. 

Ehe Elisabeth etwas entgegnen konnte, öffnete sich die Tür und Gabriel stürmte ins Zimmer. 

„Oma, Oma“, rief er und die Wassertropfen liefen an seinen Hosenbeinen herunter. 

„Ich habe dein Zimmer allein gefunden. Die Treppe rauf, den langen Gang entlang, der nach Himbeeren duftet, dann durch die Holztür mit den Rillen und schon bin ich hier.“ 

Fest drückte er Elisabeth, die Anne anschaute. Sie wusste genau, was ihre Tochter dachte. 

Er sieht und fühlt mit dem Herzen, was manch Sehender niemals erkennt.

 

©Geli Ammann2017

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