Wenn Engel reisen

Geli Ammann 2019

Sibille, Maria und Regina saßen auf einer Wolke und ließen die Beine baumeln.

„Endlich Freizeit“, murmelte Regina und gähnte herzhaft. Maria nickte. „Die letzten Wochen waren anstrengend. Ich möchte nur noch schlafen.“ Sibille schlief schon und schnarchte leise. Der Südwind schaukelte die drei Mädchen auf ihrer Wolke hin und her.

Es war der 26. Dezember und die Engel hatten frei. Seit ihrem vergänglichen Menschenleben vor einigen Jahren, mussten sie sich ihre Flügel erst verdienen. Regina hatte einem Mann geholfen, auf den rechten Pfad der Tugend zurück zu finden, Maria rettete ein Kind, das ins Eis eingebrochen war und Sibille entwendete einem Bankräuber die Waffe, indem sie ihm ein Bein stellte.

Inzwischen waren die drei vertraut mit ihrer Arbeit. Ihr Job war es, als Schutzengel zu funktionieren, doch in der Vorweihnachtszeit backten sie täglich Kekse. Eine anstrengende Tätigkeit.

Engel sind androgyne Wesen. Doch sie bevorzugen oft das Weibliche. Die Menschen mögen es, wenn sie ein liebreizendes Wesen vor Augen haben, das sie zwar nicht sehen, aber fühlen können. Sie hängen sich Bilder übers Bett, mit pausbäckigen kleinen Mädchen, die zarte bizarre Flügel am Rücken tragen.

Sibille schreckte hoch. Sie hatte vom Osterhasen geträumt und gerade als sie dem Schokoteil den Kopf abbeißen wollte, traf sie ein Brief von einem vorbeifliegenden Engelpostboten mitten ins Gesicht.

„Mädels“, rief sie, „ Post vom Boss!“ Sie wedelte mit einem Umschlag herum, der sofort zu erkennen war. Petrus hatte eine markante Handschrift und auf dem Umschlag klebten bunte Aufkleber. Er las Frauenzeitschriften, die auf der Vorderseite diese Abziehbilder trugen. Frau Petrus ärgerte sich immer, weil er alle Kreuzworträtsel sofort löste, selbst vor Sudokus machte er nicht halt. Auch die Keksrezepte mussten die Engel nach diesen Zeitschriften backen. Der Weihnachtsmann sah es lockerer, aber auch er war nur ein Angestellter von Petrus.

Regina und Maria schauten gespannt auf den Umschlag, den Sibille langsam öffnete. Es dauerte ein paar Sekunden, dann las sie vor.

Liebe Engel,

das Jahr neigt sich dem Ende entgegen und ihr habt noch Resturlaub zu bekommen.

Regina verzog ihr Gesicht, spitzte die Lippen zog die Stirn in Falten. Die anderen lachten, sie sah wie Petrus aus, wenn er ihnen eine Strafpredigt hielt.

„Lies weiter“, drängelte Maria ungeduldig und kaute auf ihrer Unterlippe.

Bei der Durchsicht meiner Unterlagen ist mir aufgefallen, dass dieser Urlaub verfällt, wenn ihr ihn nicht sofort antretet. Ab morgen seid ihr für 10 Tage beurlaubt. Erst am 6. Januar möchte ich euch wiedersehen.

Mit freundlichen Grüßen Petrus

maschinell unterschrieben, nach Diktat verreist

 

Die drei schauten sich an und lachten.

„Es liest sich wie eine Strafe“, prustete Maria und strich sich ihr Engelshaar aus dem Gesicht. Sibille nickte und Regina hielt sich den Bauch vor Lachen.

„Zehn Tage“, fast andächtig klangen diese Worte als Sibille sie aussprach.

Regina zog ihr Handy aus der Hosentasche und tippte wild darauf herum.

„Was machst du?“, fragend schaute Maria sie an.

„Ich gucke bei – Ab in den Urlaub – nach Angeboten“, antwortete sie und tippte weiter.

Zufrieden nickte Regina und las den anderen vor.

„Eine Woche Südsee, all inclusive im Dreibettzimmer. Wir können morgen anreisen. Fliegen könnten wir ja selbst“, grinste sie und las weiter, „Packen sie ihren Badeanzug ein. Faulenzen wird garantiert.“

Erwartungsvoll schaute sie ihre Freundinnen an. Zeigte auf ihr Handy. Ein buntes Prospekt zeigte ein hübsches Hotel, im Hintergrund das Meer, kleine Wellen kräuselten sich und mittendrin ein Surfer, der schnurrgerade auf seinem Brett stand.

„Das Weihnachtsgeld wird reichen“, zufrieden nickte Regina als sie den Preis entdeckte.

„Wir buchen“, jubelte Maria.

„Ich gehe packen“, murmelte Sibille. Die anderen stimmten mit einem Kopfnicken zu. Schnell wickelte Regina die Modalitäten ab.

„Fertig!“, sie klappte ihr Mobilteil zu.

Wenn Engel auf Reisen gehen, ist das Wetter wunderbar. Am nächsten Morgen starteten sie Richtung Süden. Maria hatte Salamibrote in den Rucksack gepackt und für den kleinen Hunger Kekse.

Mit dem Wind im Rücken verflog die Zeit in Windeseile und bald sahen sie die kleine Insel mitten im Meer. Der Landeanflug klappte und sie checkten kurze Zeit später im Vier-Sterne-Luxushotel ein. Die Rezeption sah wie eine Banane aus und Sibille kicherte leise. Petrus aß immer zum Frühstück eine Banane und oftmals zierten Reste seinen Schnurrbart.

Warum denke ich an ihn‘, überlegte sie, da bog er um die Ecke und blieb wie angewurzelt stehen als er seine drei Engel entdeckte.

„Potzblitz, was macht ihr hier?“, polterte er los. Sein Schnurrbart wippte hin und her.

„Urlaub“, riefen die drei wie aus einem Mund und lächelten ihren Boss an.

Regina stellte sich direkt vor ihn und sagte:

„Du hast uns doch Urlaub gewährt und nun sind wir hier“.

Petrus nickte, er hatte sich von dem Schreck erholt. Wer traf schon gern seine Angestellten im Urlaub, zumal Frau Petrus nicht dabei war, aber das war eine andere Geschichte.

„Nun gut“, murmelte er, „ich habe nichts dagegen, aber denkt daran. Engel sind immer im Dienst.“

Damit verschwand er in der Hotelhalle.

„Ich kann nicht mehr“, lachte Maria.

„Unser Boss in rotgepunkteter Badehose und Schlappen. Schade, dass ich keinen Fotoapparat dabei habe“, prustete sie weiter. Regina und Sibille stimmten ein, drückten die Tür vom Fahrstuhlknopf und bezogen ihr Zimmer.

 

Der Urlaub konnte beginnen. Sie schauten vom Balkon aufs Meer, das wirklich türkisfarben schimmerte. Ein weißer Sandstrand. Die Sonnenschirme in vielen Farben umrahmten das schöne Bild. Die Tage verliefen gleichmäßig. Ausschlafen, gut frühstücken und zum Strand laufen. Die anstrengende Vorweihnachtszeit schien vergessen. Abends genossen sie die Abendunterhaltung, tranken einen Cocktail und erzählten sich bis tief in die Nacht Geschichten. Natürlich gab es auch mit anderen Erholungssüchtigen Gespräche. Flirten gehörte dazu.

Wer von uns hat nicht schon einmal einen Engel im Urlaub getroffen.

Die Zeit plätscherte dahin.

„Noch zwei Tage“, flüsterte Sibille. Sie lagen auf bequemen Liegestühlen, hatten sich gegenseitig eingecremt und dösten in der Sonne.

„Schau“, rief Maria, „genau wie im Prospekt. Sie zeigte aufs Meer hinaus. Plötzlich erschrak sie.

Am Horizont stand eine Person auf einem Surfbrett. Sie stand allerdings nicht gerade, schwankte hin und her und ruderte mit den Armen. An diesem Tag wehte starker Wind, die Schaumkronen trugen dicke Falten, die auf und ab wippten.

Regina und Sibille standen auf, schauten zu Maria. Sie wussten sofort, was zu tun war. Schnell liefen die drei zum Wasser und schwammen aufs Meer hinaus. Den armen Kerl hatte es inzwischen vom Brett geweht, das ein Stück entfernt schwamm. Es sah aus als wollte es auf weite Reisen gehen. Fremde Kontinente erkunden.

Natürlich waren die Engel Rettungsschwimmer. Das gehörte zum allgemeinen Ausbildungsprogramm. Sie packten den aufgeregten Surfer in die stabile Seitenlage und gelangten zum Strand. Als das Wasser flacher wurde, halfen andere Badegäste.

Er hatte einiges an Wasser geschluckt, als seine Atmung sich normalisierte schaute er auf und rief:

„Ihr seid meine Schutzengel. Ohne euch wäre ich ertrunken“.

Sibille, Regina und Maria schauten sich erschrocken an. Waren sie zu erkennen?

„Es ist eine Floskel“, flüsterte Sibille den anderen leise ins Ohr. Erleichtert nickten sie.

„Im Notfall wäre ich geflogen“, flüsterte Maria. Aber da sie inkognito unterwegs waren, hätte es Ärger mit dem Chef gegeben und der Chef war nicht Petrus.

Die Aufregung legte sich bald. Der Mann war mit dem Schrecken davon gekommen. Nur sein Surfbrett blieb verschwunden. Es wurden viele Hände geschüttelt und selbst die Hoteldirektion sagte Danke.

Als sie im Bett lagen konnte Sibille lange nicht einschlafen. In wenigen Stunden endete ihr Urlaub und die Worte von Petrus gingen ihr nicht aus dem Kopf.

Engel sind immer im Dienst

 

 

 

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